Zuhause in Fukushima by Judith Brandner

Zuhause in Fukushima by Judith Brandner

Autor:Judith Brandner
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co.KG, Wien


KAYA

Endlich gelingt es mir, für ein halbes Stündchen alleine mit Kaya zu bleiben. Kaum zu glauben, dass dieses zarte Wesen einen Computer und einen Fernseher zertrümmert haben soll. Später, nach dem Essen, lässt sie sich sogar dazu überreden, ein paar Takte auf dem Klavier zu spielen, das im Wohnzimmer steht. Die Mutter hatte erzählt, dass sie gerne Klavier spielt: „Sie ist künstlerisch begabt, finde ich. Sie schreibt auch Gedichte und ich finde, sie kann gut schreiben.“

Ich spreche Kaya auf ihre Reise zu den Bürokraten im Tokyoter Regierungsviertel Kasumigaseki an. Was für ein mutiger Schritt! Kaya macht auf desinteressiert und spielt mit ihrem neuen Handy. Das hat sie von ihrer Mutter bekommen, weil sie die Mittelschule geschafft hat. Gleichzeitig kann sie ihre Neugierde an dem Besuch mit dem Mikrofon in der Hand nicht ganz verstecken. Auf YouTube habe ich ihren Auftritt mit den anderen Kindern aus Fukushima gesehen. Sie reisten einige Monate nach der Katastrophe nach Tokyo, als Abgeordnete der Organisation Save the Fukushima Children. Ein E-Mail, das Kaya zuvor an die Regierung geschrieben hatte, war unbeantwortet geblieben.

In einem Saal sitzen die Bürokraten nebeneinander aufgereiht, sie tragen weiße, kurzärmelige Hemden und haben Ausweise um den Hals gehängt. Ihnen gegenüber sitzen die Kinder, Kaya mit ihrem schwarzen Pagenkopf und einer schwarz-weiß karierten Bluse über dem weißen T-Shirt, und wie Fürbitten tragen die Kinder ihre Fragen vor: „Warum habt ihr so viele Atomkraftwerke gebaut? Warum habt ihr nicht alle Kinder aus der Präfektur Fukushima weggebracht? Werde ich einmal ein gesundes Kind gebären, wie lange werde ich leben?! Warum habt ihr nicht früher begonnen zu dekontaminieren?“ „Warum ist meine Frage nach der kollektiven Evakuierung der Kinder unbeantwortet geblieben?“, setzt ein tapferer kleiner Junge nach. Die Bürokraten machen verlegene Gesichter, tuscheln miteinander, einer trommelt nervös mit den Fingern auf den Tisch. Die Bürokraten wissen keine Antworten. Sagen irgendetwas.

Mit diesem Auftritt habe Kaya etwas tun wollen, für ihre Freundinnen, die in Fukushima geblieben sind. Aber diese Beamten hätten ihr wahres Gesicht gezeigt: „Von diesen Leuten kann man nichts erwarten! Kaya hatte so sehr gehofft, dass irgendetwas geschehen würde, wenn die Beamten sehen, wie Fukushimas Kinder leiden. Aber nichts dergleichen passierte!“, hatte ihre Mutter erzählt.

Sie sei von diesen Bürokraten so enttäuscht, sagt Kaya endlich, und blickt vom Telefon in ihrer Hand auf. „Obwohl wir ernsthafte Fragen gestellt haben, kam von den Beamten keine einzige ernstzunehmende Antwort.“ Eine Woche lang hatte sie sich auf den Auftritt vorbereitet. Um fünf Uhr früh waren sie und die anderen Kinder aufgestanden, sechs Stunden hatte die Busfahrt gedauert. Und dann diese herablassende Reaktion! Ob sie wütend sei, frage ich sie. Sie schüttelt den Kopf und schaut mich an. Sie weine. Wenn sie alleine sei, weine sie, sagt sie. Seit damals. „Warum sperrt Japan die Atomkraftwerke nicht für immer zu?“, fragt sie mich und ich habe keine Antwort für sie.

Die Uhr an der Wand tickt. Wir schweigen. Sie beantwortet Nachrichten auf ihrem Mobiltelefon. Irgendwann blickt sie auf und sagt: „Ich möchte zurück nach Miharu.“ Aber Matsumoto sei doch ein so hübscher Ort, werfe ich dümmlich ein, weil mir nichts Besseres einfällt.



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